Ist unsere Welt determiniert? Antworten von Chaostheorie und Co.

Zusammenfassung von folgenden Vorträgen:

1989  Trins (Österreich), vor dem Arbeitskreis Theoretische Meteorologie

1992  Offenbach. Deutschen Wetterdienst

1992  Hohenheim. Evangelische Akademie

1994  Berlin. Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät der Freien Universität

1994  Bad Saarow. Telekom Fachakademie

1994  Berlin. Meteorologisches Institut der Freien Universität

1994  Potsdam. Wirtschaftswissenschaftliches Institut der Universität

1995  Berlin. Institut für Experimentalphysik der Freien Universität

1998  Jülich, vor dem dortigen evangelischen Pfarrkonvent 

 

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Die folgende Fassung fußt schwerpunktmäßig auf der Version von 1998 vor dem evangelischen Pfarrkonvent.

Ich danke Ihnen, dass Sie mich eingeladen haben zu einem Versuch, eine Brücke zu schlagen zwischen den Naturwissenschaften und der Theologie. Ich hoffe, dass es keine halbe Brücke wird, die zwar von der naturwissenschaft­lichen Uferseite ausgeht, die aber nicht an der theologischen Seite ankommt. Ein Problem könnte sein, dass an beiden Uferseiten auch verschieden gesprochen wird, dass gleiche Worte unterschied­liche Bedeutungen haben. Unsere Brücke sollte auch diese Sprachverwirrung über­brücken.

Nehmen wir Z.B. das Wort "Chaos". Dieses Wort steht auch in der Bibel. Ich könnte mir vorstellen, dass es verschiedene theologische Analysen zur Bedeu­tung dieses Wortes gibt. Auf der naturwissenschaftlichen Seite gibt es jedenfalls unterschiedliche Definitionen des Begriffes "Chaos". Manchmal haben wir also Sprachverwirrung sogar auf einer Seite der Brücke!

Allerdings wird der natur­wissenschaftliche Begriff "Chaos" seit 1963 nur noch in einem Sinne gebraucht. In diesem Jahr hat nämlich der Meteorologe Edward Lorenz eine bedeutende Entdeckung gemacht, und seitdem spricht man praktisch nur noch von der Chaostheorie, deren Bedeutung nach Meinung vieler zu vergleichen ist mit der Bedeutung von Relativitäts- und Quantentheorie, die ja unser Jahrhundert mitgeprägt haben. Der Sinn, den "Chaos" hier hat, wird oft mit dem Begriff "Deterministisches Chaos" umschrieben, ein Wort also, das wie ein Widerspruch in sich klingt. Lorenz selbst sagt sinngemäß: Deterministisches Chaos beschreibt Bewegun­gen, die zwar zufällig aussehen, die aber nicht zufällig sind, weil sie nämlich gesetzmäßig berechnet werden können". Ich komme noch ausführlich darauf zurück.

Neben diesem 1963 entdeckten "deterministischen Chaos" gibt es das schon immer bekannte "stochastische Chaos", welches nun doch echte Zufälligkeit im System bezeichnet. Wenn man allerdings nur von Chaos oder von Chaos-"Theorie" redet, den Zusatz stochastisch oder deterministisch also weglässt, meint man deterministisches Chaos. Das ist der zurzeit übliche Sprachgebrauch in der Naturwissenschaft. Wir sollten uns erst einmal die bloßen Worte merken, vielleicht mit der allerersten Begriffs­bestimmung: Stochastisches Chaos bedeutet echte Zufälligkeit, determini­stisches Chaos bedeutet scheinbare Zufälligkeit, und Chaos ohne Zusatz bedeutet das gleiche wie deterministisches Chaos. Wenn es mir gelingt, Ihnen diese Begriffe näherzu­bringen, indem ich sie mit mehr Inhalt fülle, habe ich meinen Teil der Brücke fast schon gebaut.

Es kann nicht falsch sein, einen Vortrag zu einem naturwissenschaftlichen Thema mit Albert Einstein zu beginnen. Einstein hat ja die Relativitätstheorie geschaffen, er hat aber auch maßgeblich an der Quantentheorie mitgewirkt. Die Relativitätstheorie, von der heute nicht weiter die Rede sein soll, zählt noch zur klassischen Physik. Klassi­sche Theorien befassen sich mit Raum und Zeit, und mit anschaulichen Dingen der makroskopischen Größenskala wie Billardkugeln, Wolken, Planeten usw. Die Quan­ten­theorie dagegen befasst sich als nicht-klassische Theorie mit der mikroskopischen Skala. Eigentlich darf man sagen, mit der submikroskopischen Skala, nämlich der Skala der Moleküle, Atome und Elementarteilchen, die man ja mit dem normalen Mikroskop noch nicht sehen kann.

Nun ist bekannt, dass sich Einstein mit der von ihm selbst mitgeschaffenen Quantentheorie nie so richtig angefreundet hat. Ihn hat gestört, dass man gewisse mikroskopische Vorgänge nicht deterministisch berechnen kann. Auf der atomaren Ebene ist die Physik gewissermaßen zufällig, oder, was dasselbe ist, "stochastisch". Nehmen wir als Beispiel das Modell eines Atoms. Da haben wir den Atomkern und die Elektronen in der äußeren Hülle des Atoms. Wir betrachten ein Elektron, welches einen größeren Abstand vom Atomkern hat als nötig, so dass es gewissermaßen "herunterfallen" könnte. Wenn das passiert, verliert es potentielle Energie. Hier geht es dem Elektron ebenso wie einem Ziegel, der vom Dach herunterfällt. 

In beiden Fällen muss aber der Energieverlust ausgeglichen werden, weil Energie eine Erhaltungsgröße ist. Der Energieverlust des Dachziegels wird dadurch ausgeglichen, dass die Bruchstücke etwas erwärmt werden. Wärme ist ja auch eine Energieform. Der Energieverlust im Atom wird durch das Aus­senden einer elektromagnetischen Welle ausgeglichen, oder technischer ausgedrückt, durch die Emission eines "Photons", welches die fehlende Energie aufnimmt. Nun kann man mit Hilfe der Quantentheorie zwar die Wahrscheinlich­keit ausrechnen, mit der unser Elektron "demnächst" ein Photon aussenden wird. Man kann aber nicht den Zeitpunkt ausrechnen, wann das passiert. Dieser mikroskopische Vorgang ist nicht determiniert, er ist gewissermaßen "zufällig". Hier haben wir echtes, also "Stochastisches Chaos", und das kommentierte Einstein mit seinem berühmten Satz "Gott würfelt nicht".

Der Grund für diese echte Zufälligkeit ist die von Heisenberg 1927 gefundene Unschärferelation. Wenn man das Herunterfallen des Elektrons berechnen wollte, muss man natürlich die wechselnden Orte und Geschwindigkeiten des Elektrons angeben. Die Unschärferelation sagt aber, dass genau das prinzipiell nicht möglich ist. Oft hört man, Ort und Impuls sind nicht gleichzeitig bekannt. Das ist aber im Wesent­lichen das gleiche wie die Unschärfe zwischen Ort und Geschwindigkeit, denn der Impuls ist (näherungsweise) nur die mit der Masse multiplizierte Geschwindigkeit.

Wieso kann man den Ort und die Geschwindigkeit eines Elektrons nicht gleich­zeitig angeben? Den Grund dafür kann man im anschaulichen Sinne nicht verstehen. Wir müssen einfach hinnehmen, dass die tatsächliche mikrosko­pi­sche Welt anders ist als die von Menschen entwickelte anschauliche makros­kopische Begriffswelt: Exper­imen­te zur Messung des Aufenthaltsortes kleinster Teilchen ergeben, dass sie plötzlich gar keine Teilchen mehr sind, sondern wohl eher Wellen. Will man dann in einem anderen Experiment die Wellenlänge messen, reagieren die gleichen Objekte wieder wie Teilchen. Die Welt besteht also weder aus Teilchen noch aus Wellen. Sie besteht vielmehr aus unanschau­lichen Dingen, die wir einfach "Quanten" nennen! Dieser Verlust der Anschau­ung charakterisiert ja gerade das Ende der klassischen Physik.

Eigentlich sollten wir uns nicht darüber wundern, dass die mikrosko­pi­schen Objekte manchmal wie Teilchen und manchmal wie Wellen aussehen! Das menschli­che Gehirn ist ja von der Evolution gar nicht dazu "erfunden" worden, so etwas zu verstehen. Der evolutionäre Vorteil des Gehirns liegt vielmehr darin, sich in einer makroskopischen Welt zurechtzufinden, so dass maximale Überlebens­chancen resultieren. Auch die Begriffe "Teilchen" und "Welle" sind in der Auseinandersetzung mit der makrosko­pi­schen Welt entstanden. Und wenn dieses "makroskopisch getrimmte" Gehirn nun auf die Idee kommt, solche aus der mikroskopischen Welt kommenden physikalischen Systeme verstehen zu wollen, muss es sich nicht wundern, dass es hier gar keine Teilchen oder Wellen vorfindet! Die aus der makroskopischen Welt abgelei­te­­ten Begriffe passen hier einfach nicht!

Erstaunlich ist für mich etwas ganz anderes, nämlich die Tatsache, dass es trotz der Unvereinbarkeit zwischen Anschauung und experimenteller Wirklichkeit gelungen ist, eine mathematische Beschreibung der Beobachtungen zu finden. Diese Beschreibung heißt Quantentheorie. Das gleiche Gehirn, welches die mikroskopischen Experimente anschaulich nicht verstehen kann, kann sie mit Hilfe der Mathematik der Quantentheorie dann doch verstehen, allerdings nicht mehr auf einer anschaulichen, sondern auf einer zwar sehr logischen, aber doch abstrakteren Ebene.  -  Für das Kommende sollten wir uns einfach nur merken, dass Orte und Impulse kleinster Teilchen nicht gleichzeitig bekannt sein können, weil es eigentlich gar keine Teilchen sind, sondern unanschauliche Quanten. Besteht man aber auf einer Beschreibung im Teilchenbild, so werden die Bewegungen dieser Teilchen zu Zufallsprozessen.

Auf der mikroskopischen Ebene gibt es also stochastisches Chaos. Ob es hier auch deterministisches Chaos gibt, weiß ich nicht. Meines Wissens wird darüber gegen­wärtig heftig diskutiert. Als Theoretischer Meteorologe habe ich mich auch mehr für die makroskopische Ebene zu interessieren, und da kann ich Ihnen sagen, dass es hier stochastisches und deterministisches Chaos gibt.

Selbstverständlich gibt es hier auch chaosfreie Systeme. Das Pendel in einer Standuhr, der regelmäßige Sonnenaufgang sind Beispiele für determinierte Systeme. 

Andererseits sind diese chaosfreien Systeme Idealisierungen. Wenn man genauer hinschaut, stellt man fest, dass der Pendelbewegung in der Standuhr kleine Zufallsbewegungen überlagert sind, etwa wenn jemand durch den Raum geht. Auch die Planetenbewegungen werden von Meteoriten usw. (meist) nur geringfügig gestört.

Das sind Beispiele dafür, dass es zufallsbedingtes Verhalten auch auf der makros­kopischen Ebene gibt, wenn auch nur als kleine Beigabe, als bloße Störung einer geordneten Bewegung.

Bei anderen makroskopischen Systemen ist das Zufallsverhalten jedoch das beherr­schende Element. Das ganze System befindet sich dann im "stochastischen Chaos". Paradebeispiele dafür sind natürlich die Bewegungen von Würfeln, Lostrommeln oder Roulette-Kugeln. Auf welche Weise kommt hier der Zufall ins Spiel? Die Antwort lautet: Durch Unwissenheit! Hier ist kein physikalisches Gesetz wie die Unschärferelation zu Werke, sondern man kennt das System einfach nicht genau genug! Im Gegensatz zur prinzipiellen Unbestimmtheit der Mikrophysik könnte man es aber kennen! Man könnte z.B. das Würfelergebnis ausrechnen, dazu dass man nur alle Tischunebenheiten kennen, die Luftbewegungen, die genauesten Bewegungen menschliche Hand, den Schmutz auf dem Würfel usw. All diese "Freiheitsgrade" müsste man in der Rechnung berücksichtigen. Der berühmte Laplace'sche Dämon kann das alles, der kennt alle Freiheitsgrade des Würfelsystems und auch der sonstigen Welt. Für ihn ist die Welt ebenso determiniert wie ein Uhrwerk. So dachte man bis 1963. 

Wenn diese makroskopische Zufälligkeit aus Unkenntnis alles wäre, müsste man sagen: "Unsere Welt ist determiniert, man kann alles, was passiert, berechnen. In der Praxis ist es zwar schwierig, alle Freiheitsgrade zu berücksichtigen, aber prinzipiell geht das schon. Der "Laplace'sche Dämon" kann das! Auch meine Willensfreiheit ist nur eingebildet, denn ob ich morgen meiner Frau Blumen mitbringe oder nicht, kann der Dämon ebenfalls ausrechnen. Auch das gerade besprochene echte, atomare Chaos kann ihn nicht davon abhalten, denn diese prinzipielle Unberechenbarkeit gilt nur für die mikroskopische Größenskala!

Die Aussicht, dass vielleicht die kleinsten mikroskopischen Systeme so etwas wie eine Willensfreiheit haben könnten, die makroskopischen Menschen aber nicht, kann ja wohl nicht die frohe Botschaft der Naturwissenschaft sein! Also greifen wir zur dritten Chaosart, zum 1963 entdeckten deterministischen makroskopischen Chaos. Vielleicht haben Sie nicht viel Hoffnung, dass ausgerechnet deterministisches Chaos uns vom Uhrwerksuniversum befreien könnte.

Machen wir erst einmal eine Bestandsaufnahme. Wir sprachen von zwei Größen­ord­nungen, der mikroskopischen und der makroskopischen Skala, und von zwei Chaos­arten, dem deterministischen und dem stochastischen, wobei ich Ihnen das determi­nistische Chaos noch immer nicht erklärt habe. Wenn es jede Chaosart in jeder Größenskala gibt, haben wir 4 Chaostheorien. Ob es ein deterministisches Chaos auf der Mikroskala überhaupt gibt, braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen, denn es wird keine Auswirkung auf die weiteren Argumente haben. Auch das stochastische makroskopische Chaos muss uns nicht weiter beschäftigen, denn dieses ist gar kein physikalisches Gesetz, sondern nur eine Beschreibung der Auswirkung von fehlendem Wissen.

Somit bleiben in der Diskussion das 1963 entdeckte deterministische makroskopische Chaos, und das 1927 gefundene stochastische mikroskopische Chaos, also die quantenmechanisch begründete Unbestimmtheit. Wir diskutieren also über zwei der drei großen Theorien -  Relativitäts- Quanten- und Chaostheorie - dieses Jahrhun­derts. Ich behaupte, dass erst das Zusammenspiel dieser beiden Theorien den Laplaceschen Dämon und sein Uhrwerksuniversum vertreibt. Um das zu verstehen, müssen wir uns nun endlich das deterministische Chaos genauer anschauen.

Wie gesagt, sieht deterministisches Chaos nur zufällig aus, ist es aber nicht, weil man es ja berechnen kann. Also rechnen wir mal etwas aus und schauen, ob das Rechen­ergebnis wie Zufall aussieht. Wenn ja, haben wir deterministisches Chaos gefunden. Genau so hat das Lorenz 1963 auch getan, und zwar mit einem sehr einfachen Rechenmodell für die atmosphärische Konvektion. Ich habe für diesen Vortrag ein noch einfacheres atmosphärisches Rechenmodell herausgesucht, ein höchst ein­faches "nicht wirklich" ernst gemeintes Klimamodell, das ich zudem erst modifizieren, "zweckentfremden" musste, um deterministisches Chaos zu erhalten. Sie sehen auch hier wieder, dass natürlich nicht jedes physikalische System deterministisch chaotisch ist!

Im Folgenden müssen wir leider einige technische Details besprechen, denen man nicht gleich ansieht, dass sie etwas mit deterministischem Chaos zu tun haben. Diesen Weg müssen wir aber gehen, wenn wir Chaos aus der Sache selbst verstehen wollen, also ohne Vergleiche mit vertrauten Bildern. Solche Bilder sind oft irreführend, sie vermitteln auch keine Möglichkeiten zur eigenen Einschätzung der Theorie oder zu selbstständigem Weiterdenken. Eine tragfähige Brücke kann man so nicht bauen.

Natürlich werde ich mich auf die notwendigsten Details beschränken, bis auf zwei oder drei mathematische Formeln, die Sie aber nicht unbedingt nachvollziehen müssen, um die Quintessenz am Ende zu verstehen. Auch der nun folgende kleine Einblick in die Werkstatt des "Klima-Modellbauers" ginge dadurch nicht verloren.

Unser Klimamodell ist extrem einfach, es berechnet nur Temperaturänderungen! Die Rechnung erfolgt durch eine Bilanzierung von Wärme-Energien, die die Erde einerseits von der Sonne bekommt, die sie andererseits aber auch selbst an das Weltall abgeben muss. Unsere Klima-Formel hat also die Grundstruktur:

Temperaturänderung  =  absorbierte Solarstrahlung  -  emittierte Strahlung

Der erste Term rechts vom Gleichheitszeichen erhöht die Temperatur der Erde, der zweite Term erniedrigt sie, daher das Minuszeichen. Je nachdem, ob die Einstrahlung oder die Ausstrahlung überwiegt, wird es wärmer oder kälter. Das ist unser Klima­modell! Ein und Ausstrahlung bestehen aus elektromagnetischen Wellen, also aus "Photonen", von denen wir ja schon wissen, dass sie Energie tragen. Die Abkühlung bei der Photon-Emission ist nichts anderes als der Energieverlust, den wir im Atommodell bereits besprochen haben!

Nun müssen wir aber die Emissionen und Absorptionen aller Atome der gesamten Erde betrachten, mit ihrer Atmosphäre, ihren Ozeanen, Schnee- und Eisflächen, Tieren und Pflanzen, Industrieflächen usw., usw.! All diese Vorgänge müssen in der obigen Formel konkretisiert werden. Beginnen wir mit der Sonneneinstrahlung. Wovon hängt ab, wie viel von ihr überhaupt absorbiert wird? Die Antwort lautet, von geradezu abartig vielen Dingen. Hier soll nur ein einziger Punkt berücksichtigt werden, nämlich die Tatsache, dass ein Teil der ankommenden Sonnenstrahlung deswgen nicht absorbiert wird, weil er reflektiert wird, (insbesondere an den Schee- und Eisflächen und an den Wolkenobergrenzen). Wir ziehen also von der Einstrahlung, hier mit S abgekürzt, einen Anteil αS ab:

          Absorbierte Strahlung  =  S - αS  =  S (1-α)

Diese um αS reduzierte solare Einstrahlung nennt man auch "Effektive Einstrahlung". Wer sich für weitere Fachworte interessiert, dem sei gesagt, dass sich hinter S die sogenannte Solarkonstante verbirgt. Das Reflexionsvermögen α nennt man auch die Albedo. Sie muss natürlich kleiner als 1 sein, da nur ein Bruchteil reflektiert werden kann. Zunächst setzen wir einen konstanten Wert 0.3 ein, der etwa den Messungen entspricht. Etwa ein Drittel der ankommenden Energie wird also für die Klimaerwär­mung nicht ausgenutzt, weil sie sofort reflektiert wird.

Kommen wir nun zur terrestrischen Ausstrahlung. Ein Ofen strahlt umso mehr aus, je wärmer er ist. Das gilt auch für die ganze Erde. Die abgestrahlte Energiemenge ist aber nicht proportional zur Temperatur. Das wäre ein lineares Strahlungsgesetz. Vielmehr haben wir stark nichtlineare Verhältnisse, die Abstrahlung ist proportional zur vierten Potenz der Temperatur! Wir schreiben also, unter Verwendung eines Faktors s:

          Emittierte Strahlung  =  sT4  

Wir werden in unserem Modell auch den Wert des Faktors s konstant setzen, haben dann aber wieder sehr viele Effekte vernachlässigt, wie z.B. den Treibhauseffekt, der den Faktor s eigentlich variabel macht, weil ein Teil der Ausstrahlung wie in einem Gewächshaus zurückgehalten wird. - Die Temperaturänderung selbst, auf der linken Seite der Gleichung, schreiben wir wie in der Differentialrechnung üblich als Ableitung dT/dt der Temperatur T nach der Zeit t. Unsere obige Klimagleichung, unser "Klima­modell", lautet also in Formeln

          dT/dt  =  S(1-α) - sT4  

Die Temperaturänderung dT/dt wird bestimmt durch eine temperaturunabhängige effek­tive Einstrahlung S(1- α) und eine temperaturabhängige Ausstrahlung sT4. Diese Gleichung wird nun näherungs­weise vom Computer gelöst. Dazu gibt man eine sogenannte Anfangs­bedingung vor, die Anfangstemperatur, von der aus der Computer iterativ, mit kleinen Zeitschritten nach vorne, eine Prognose der Temperatur ausrech­net. Diesen zeitlichen Temperaturverlauf kann man als Kurve zeichnen, und zwar in einem Achsenkreuz mit horizontaler Zeitachse und vertikaler Temperaturachse.

Das Ergebnis ist zunächst enttäuschend, denn wir können beliebige Anfangstempera­turen wählen, und immer landen wir bei einer Endtemperatur von etwa 15 C, die dann kon­stant bleibt. Daher nennt man diese Temperatur einen Attraktor des Modells. Unser Rechenergebnis stellt kein deterministisches Chaos dar, denn es sieht sicher nicht zufällig aus, wie die folgende Skizze verdeutlicht:

Immerhin können wir aber anhand der Klimagleichung dT/dt = S(1-α) - sT4 verstehen, warum das so ist!  Offenbar ist bei 15 C die temperaturabhängige Ausstrahlung sT4 genauso groß wie die konstante effektive Einstrahlung S(1-α). Beide Terme kompen­sieren sich zu dT/dt = 0, und daher kann sich die Temperatur nicht ändern.

Wenn man aber eine andere Anfangsbedingung als 15 C hat, (oder eine "Störung" dieser Temperatur), dann ändert sich die Ausstrahlung. Wenn es z.B. wärmer ist (oder durch eine Störung wärmer wird ) als 15 C, wird ja mehr Wärme abgegeben, und es wird automatisch wieder kälter. Und umgekehrt, wenn es kälter als 15 C ist (oder wird), ist die Ausstrahlung geringer als die in diesem Modell stets konstante Einstrahlung, und es wird wieder wärmer. Wenn es also wärmer wird, wird es kälter, und wenn es kälter wird, wird es wärmer! Man spricht von einer stabilisierenden oder auch von einer negativen Rückkopplung. Immer gibt es ein Einpendeln bei (oder ein Zurückkehren zur) Temperatur T = 15 C. Unser Modell hat einen konstanten Attraktor, es ist zur Erzeugung von Chaos zu einfach.

Wir brauchen noch eine zweite Rückkopplung! Wir brauchen nicht nur die tempera­turabhängige Ausstrahlung, sondern wir müssen auch die effektive Einstrahlung tempe­ra­turabhängig machen, z.B. dadurch, dass wir die Albedo α nicht mehr konstant halten. Eigentlich muss das Reflexions­vermögen α sowieso bei Temperaturzu­nahme ab­neh­men, denn wenn dabei die reflektierende Schnee- und Eisflächen abschmel­zen, wird weniger Solarstrahlung reflektiert. Ein bei Tempera­tur­zu­nahme abnehmen­des α erhält man z.B., wenn man Ausdruck  α = αo - µT in die Klimagleichung einsetzt, wobei αo  ein nach wie vor konstanter Anteil der Albedo α ist, und µ der Proportionali­täts­faktor für ein mit steigender Temperatur linear abnehmendes Reflexionsvermögen. Damit ändert sich die bisherige Klima­gleichung folgendermaßen:  

          dT/dt  =  S(1-α) - sT4     è    dT/dt  =  S(1-αo) + SµT - sT4  

Der Einstrahlungsteil des Klimamodells besteht nun also aus zwei Termen, dem weiterhin konstante Anteil S(1-αo) und dem temperaturabhängigen Anteil SµT, der offenbar die gegenteilige Wirkung des Ausstrahlungsteiles sT4 hat:  Wenn es wärmer wird, wird es nicht mehr kälter, sondern noch wärmer, und wenn es kälter wird, wird es nicht mehr wärmer, sondern noch kälter. Tatsächlich wird ja auch mit steigender  Temperatur das Reflexionsvermögen kleiner, weil die reflektierende Schnee- und Eisbedeckung wegschmilzt, und damit kann mehr Energie von der Sonne ausgenutzt werden. Und bei Abkühlung wird wegen der Neubildung dieser Reflexionsflächen die Sonneneinstrahlung zunehmend verloren! Das nennt man eine destabilisie­rende oder eine positive Rückkopplung, und wenn sie allein wirken würde, wäre das Klima instabil.

Aber sie wirkt ja nicht allein, wir haben ja noch die stabilisierende, negative Rück­kopplung durch die "schon immer" mit dem anderen Vorzeichen temperaturabhängige Ausstrahlung sT4. Wenn es wärmer wird, wird mehr, wenn es kälter wird, wird weniger Energie ausgestrahlt! Insgesamt hängt das Stabilitätsverhalten davon ab, welche der beiden Rückkopplung stärker ist.   

Die neue Klimagleichung stecken wir wieder in den Computer und rechnen. Als Ergebnis kommt aber noch immer kein Chaos heraus! Es ändert sich fast Nichts! Alles bleibt stabil! Das heißt natürlich, dass die stabilisierende Rückkopplung der Ausstrah­lung, die ja in vierter Potenz von T abhängt, stärker ist als die destabili­sierende Rück­kopplung der Einstrahlung, die ja nur linear (in "erster" Potenz) von T abhängt.

Nun kommt der Augenblick, wo ich das Klimamodell "zweckentfremde". Ich verändere ungeachtet der Gegebenheiten unseres Planeten die Solarkonstante S, in der Hoff­nung, dann irgendetwas Aufregendes zu finden. Unser Modell ist dann kein Klima­modell mehr für diese Erde, höchstens für irgendeinen anderen, noch unbe­kannten Planeten. Immerhin könnte es als Beweis dafür dienen, dass man überhaupt mit determinis­ti­schen Gleichungen Chaos erzeugen kann. - Im Übrigen haben wir uns sowieso schon von der atmo­sphärischen Realität verabschiedet, als wir sagten, die Albedo α fällt bzw. steigt immer dann, wenn die Temperatur T steigt bzw. fällt, weil dann wegen der abnehmenden bzw. zunehmenden Vereisung die Reflexionsflächen kleiner bzw. größer werden. Aber nur Schnee- und Eisflächen werden kleiner bzw. größer bei steigender bzw. fallen­der Temperatur. Für die Wolkenobergrenzen gilt das nicht! Zwar reflektieren auch sie Solarstrahlung, aber diese Reflexionsflächen werden eher größer statt kleiner, wenn die Temperatur steigt. Das könnte sogar eine Klima­stabi­lisie­rung durch beide Terme unserer extrem vereinfachten Klimagleichung ergeben.

Diese Probleme ignorierend, füttern wir nun den Computer weiter­hin mit einer Klima­glei­chung, welche die Strahlungsemission stabilisierend und Strahlungsabsorp­tion destabilisierend modelliert. Alle Rechnungen starten bei einer Anfangsbedingung von 0 C. Man kann also zu Beginn zunehmende Temperaturverläufe erwarten, die denen im unteren Bereich der vorigen Abbildung entsprechen, wo ja Temperaturverläufe mit unter­schiedlichen Anfangstemperaturen gezeigt wurden, die um 15 C herum schwankten. Hier nun variieren wir in 8 verschiedenen Modell-Läufen die S Solareinstrahlung zwischen 96% und 300% des für die Erde gültigen Wertes:

  

 Das dritten Experiment von unten (mit der zugehörigen Beschriftung 100 %) ist genau das vorher beschrieben Experiment, in dem die Temperatur von 0 C auf einen Attrak­torwert 15 C ansteigt. Attraktoren erhält man auch bei höheren Solareinstrahlun­gen als denen auf unserem Planeten, wobei es natürlich nicht wundert, dass es wärmer würde, wenn die Sonne stärker scheinte. Aber sonst passiert hier noch nichts Aufre­gendes.

Auch bei einer Abnahme der Einstrahlung von 3% ergibt sich eine Attraktor-Tempera­tur, die natürlich niedriger liegt. Schon bei 4% Abnahme aber wird das Klima nun doch instabil, die Temperatur fällt ins Bodenlose. Der Grund für diese "Blitz-Eiszeit" ist fol­gender: Mit der Sonneneinstrahlung geht ja auch die Temperatur etwas zurück. Damit geht aber auch die stabilisierende Rückkopplung zurück. Die Stabilisierung wird schwächer, und das sogar mit der 4. Potenz der Temperatur! Sie kann sogar schwä­cher werden als die Destabilisierung, die ja nur linear mit der Temperatur abnimmt! Genau das ist hier passiert. Das instabile Klima mag zwar interessant sein, aber es ist noch immer kein deter­ministisches Chaos. Was passiert aber, wenn man die Solareinstrahlung noch weiter erhöht als bisher, über 800% unseres Wertes hinaus? Sehen wir es uns auf der folgenden Skizze an (die auch die eben besprochene Destabilisierung veranschaulicht):

Es gibt weitere Attraktoren! Bei 900 % geschieht jedoch zum ersten Mal etwas prinzipiell Neues. Die Attraktor-Temperatur wird zwar auch erreicht, jedoch nicht wie bisher auf direktem Wege von "unten" her. Sie "schießt" sozusagen erst über ihr Ziel hinaus und erreicht es erst nach einem Einpendeln von beiden Seiten her. Das Einpendeln dauert bei noch höheren Strahlungswerten immer länger, bis es schließ­lich, genauer gesagt bei 1048 %, unendlich lang dauert! (Diese Verdoppelung ist in der Skizze einigermaßen gut zu erkennen. Die genaue Zuordnung der Prozent­angaben zu den horizontalen Attraktorlinien muss durch Abzählen von unten erfolgen). Es kommt zu einer Ver­doppelung des Attraktors, weil das Einpendeln von beiden Seiten her gewissermaßen unendlich lange dauert. Man sagt, der bisherige Punkt­attrak­tor sei zu einem "2-fachen Zyklus" geworden. Es habe eine "Periodenver­dopp­lung" oder eine "Bifurkation" stattgefunden.

Bei noch weiterer Erhöhung der Solareinstrahlung kommt es zu weiteren Perioden­verdopplungen. Der Attraktor ist bald ein Vierer-Zyklus, dann ein Achter-Zyklus usw. Der Vierer-Zyklus ist durch die drei "locker punktierten" horizontalen Linien zu erkennen. (Die vierte ist von einem anderen Attraktor verdeckt). Der Achter-Zyklus und alle weiteren sind in diesem Bild nicht zu sehen. Der Grund dafür ist folgender: Die Perioden verdoppeln sich bei immer geringeren Zuwächsen der Solareinstrahlungen. Jede Verdopplung geschieht fast 5 Mal "schneller" als die vorige, genauer gesagt bei einem 4.66 Mal geringeren Zuwachs der Einstrahlung. Diese Zahl wird nach einem amerikanischen Forscher "Feigenbaumkonstante" genannt. Bei 1048 % Solarstrahlung hatten wir die Zweierperiode. Die Viererperiode entsteht kurz vor 1100 %, sozusagen 50% "später". Da die Achterperiode 5 Mal "schneller" kommen muss, entsteht sie schon bei etwa 1110%, die Sechzehnerperiode sogar schon bei 1112 %, die Zweiunddreißiger bei 1112.4 %, die Vierundsechziger bei 1112.48 % usw. Sie merken schon: die Solareinstrahlungen kommen gar nicht mehr richtig voran, wir bekommen unendlich viele Periodenverdopplungen bei kaum noch veränderten Solareinstrahlun­gen! Nichtsdestoweniger kann aber unser Modell weit höhere Solareinstrahlungen haben, also 1200% und mehr! Dann kann aber das Verhalten nur noch unperiodisch sein! Das sind die "umherstreuenden" Punkte, die wie "zufällig" aussehen, obwohl wir sie ja gerade ausgerechnet haben! Daher können wir diesen Effekt mit Recht Deterministi­sches Chaos nennen! - Das nächste Bild zeigt noch einmal den gleichen Sachverhalt wie das vorige, jedoch in anderer, zweckmäßigerer Form:

 

An der Horizontalachse ist nicht mehr die Zeit aufgetragen, sondern die Solarstrah­lung selbst. Jede vertikale Säule von Punkten entspricht nun einer selbständige Modellrech­nung bei einer bestimmten Solareinstrahlung, und das jeweilige Rechenergebnis, die Entwicklung der Temperaturwerte, ist abzulesen durch die Punktfolge längs der verti­kalen Achse, die zur jeweiligen Solareinstrahlung gehört. (Dass diese vertikalen Punkt­säulen auch horizontal verbunden sind und so den Eindruck von ansteigenden Linien erzeugen, ist nur ein optischer Effekt und stört eher die Interpretation dieses Bildes).

Die Starttemperatur ist immer Null Grad. Von dort starten also die Temperaturpunkte nach oben und erreichen dann schnell den jeweiligen Attraktor, wo die Temperaturen dann nur noch aufeinander gezeichnet werden können. - Etwa zu Beginn der zweiten rechten Hälfte des Bildes, (dort hat die Solarstrahlung etwa 800% erreicht), ist nun  das beiderseitige Einpendeln auf die Attraktortemperatur recht gut zu erkennen. Be­son­ders klar zu sehen ist vor allen die erste Periodenverdopplung, die ja bei  1048% stattfindet. Die zweite Periodenverdopplung, also die Entstehung der Viererperiode, erfolgt ja 4,66 Mal schneller, aber auch sie ist noch gut zu erkennen. Sogar die noch einmal viel "schneller" entstehende Achterperiode deutet sich in diesem Bild noch an. Dann aber "versinkt alles im Chaos", im wörtlichen Sinne.

Genauer gesagt, finden bei minimaler weiterer Erhöhung der Einstrahlung unendlich viele  Periodenverdopplungen statt. Wie bei der sinnbildlichen Darstellung eines Wettrennens zwischen Achilles und der Schildkröte gibt es einen Grenzwert der Solarkonstanten, jenseits dessen keine Periodenverdopplungen mehr stattfinden können, weil buchstäblich nicht nur unendlich viele, sondern "alle" Perioden­-Verdopp­lungen schon vor diesem Grenzwert stattge­fun­den haben. Das Chaos jenseits dieses Grenzwertes ist also ein aperiodisches und dennoch ausrechenbares deterministi­sches Verhalten.

Natürlich kannte man deterministisches aperiodisches Verhalten auch schon vor 1963, jedoch immer nur in Kombination mit instabilem Verhalten! Der auf der Spitze stehen­de Bleistift ist ein Beispiel. Er fällt einfach um, bewegt sich also nicht etwa periodisch, er ist aber auch nicht stabil! Unperiodisches und instabiles Verhalten haben wir ja auch im Klimamodell gefunden: Bei niedriger Einstrahlung kann die Temperatur "ins Boden­lose" fallen! Auch das ist ein aperiodisches, aber instabiles Verhalten. 

Das eigentliche sensationelle und neue bei der Entdeckung des deterministischen Chaos war es, dass es unperiodisches und trotzdem stabiles Verhalten gibt. Die Temperatur wandert nicht ins Grenzenlose, sondern sie bleibt innerhalb eines Temperatur-Intervalls gefangen. Der ganze Teilbereich ist nun ein Attraktor! Man nannte ihn, und man nennt ihn noch heute, einen "Seltsamen Attraktor".

Wenn man sich das vorige Bild anschaut, kommt man auf die Idee, dass man die Periodenverdopplungen deutlicher erkennen müsste, wenn man nicht die gesamten Temperaturverläufe zeichnet, also nicht alle vertikal angeordneten Punkte bei allen Solareinstrahlungen, sondern nur die jeweiligen Temperaturwerte nach dem Erreichen des Attraktors. Alle Punkte vor dem Erreichen des jeweiligen Attraktors werden einfach weggelassen, und so entsteht ein sogenanntes Bifurkationsdiagramm. Das Einpendeln von beiden Seiten her auf die Attraktoren vor den jeweiligen Verzwei­gungspunkten ist hier natürlich nicht mehr zu sehen. Dafür sind die Periodenverdopp­lungen aber deutlicher geworden, und man sieht auch, jedenfalls bis zur Achter­periode, dass jede Verdoppelung etwa 5 Mal "früher" entsteht:  

Interessant ist auch, dass mitten im Chaos ein schmales Fenster existiert, indem das Chaos aussetzt. Wir kommen noch darauf zurück. Vielleicht kommt Ihnen das ganze Bild sowieso bekannt vor, denn ein sehr ähnliches Bild ist vielfach veröffentlicht worden, oft sogar als Titelbild populärer Darstellungen. Dabei handelt es sich aber nicht um das Bifurkationsdiagramm unserer vereinfachten Klimagleichung,

dT/dt  =  S(1-αo) + SµT - sT4,  

sondern um das Bifurkationsdiagramm der sogenannten logistische Gleichung,

 dy/dt  =  ay - ay2.  

Diese ist offenbar noch einfacher als unsere vereinfachte  Klimagleichung, aber alle qualitativen Schlussfolgerungen sind die gleichen, wie das folgende Bild eindrucksvoll zeigt:

.

Mathematiker wundert diese Ähnlichkeit allerdings nicht, da sie den Typ von Glei­chungen kennen, bei denen ein solches Verhalten von vornherein feststeht. Immerhin können auch wir schon feststellen, dass die Logistische Gleichung  dy/dt = ay - aywie unsere Klimagleichung eine lineare positive und eine nichtlineare (wenn auch "nur" quadratisch nichtlineare) negative Rückkopplung aufweist. Bereits Lorenz hatte die logistische Gleichung als Prototyp für Klimaverhalten und seine Chaosfähigkeit angesehen. Die hier gezeigte Ähnlichkeit der Bifurkations­diagramme mag eine nachträgliche Rechtfertigung dafür sein, von den vielen brutalen Vereinfachungen des realen komplexen Klimasystems und dem Bedarf einer mehr als zehnmal stärkeren Sonneneinstrahlung einmal abgesehen.

In der Logistischen Gleichung  übernimmt der Parameter a die Rolle der Solarein­strah­lung, und y die Rolle der Temperatur. Dieses Diagramm mit seinen Verästelungen sieht aus wie ein sich biegender Baum, er wird auch oft "Feigenbaum" genannt, in Anlehnung an den amerikanische Physiker Feigenbaum, die die nach ihm benannte Konstante gerade anhand der hier vorzufindenden Bifurkationsfolge gefunden und 1978 publiziert hat. Allerdings ist diese Konstante von den deutschen Physikern Siegfried Großmann und Stefan Thomae schon ein Jahr vorher veröffentlicht worden.

Das Bifurkationsdiagramm der logistischen Gleichung im letzten Bild enthält offenbar ebenso wie das Klimamodell-Bifurkationsdiagramm im vorletzten Bild einen chaos­freien Bereich jenseits des Grenzwertes der Verzweigungskaskade. Um dieses genauer zu untersuchen, soll nun die x-Achse auseinander gezogen werden. Dabei werden wir die wohl interessanteste und wichtigste Eigen­schaft des deterministischen Chaos entdecken.

Im obersten der drei Bilder auf der nächsten Seite habe ich auf der Abszisse nicht wie bisher die Werte 1- 4 für a angetragen, sondern auf gleicher Achsenlänge nur das kleinere aber besonders interessanten Parameterintervall 3,5 - 4. Durch diese höhere Auflösung der Parameter­werte erkennt man nun, dass nicht nur ein geordnetes Fenster vorhanden ist, sondern mehrere. Man hat festgestellt, dass es sogar unendlich viele sind! Diese unendlich vielen Fenster enthalten auch selbst kleine komplette "Feigenbäume". Das ist im größten dieser Fenster sogar mit "bloßem Auge" zu erkennen! Die Vergrößerung des dort eingerahmten Ausschnittes ist im mittleren Bild wiedergegeben, wo die Abszissenbeschriftung die noch einmal höhere Auflösung der Parameterwerte im Intervall von 3,825 bis 3,860 verdeutlicht.  

Man sieht nun: Die Feigenbäume in den Fenstern des ersten Feigenbaumes enthalten auch wieder Fenster, wieder unendlich viele, und wieder mit eigenen "Feigenbäumen".

wie im unteren Bild zu sehen ist, wo ich einen Ausschnitt aus dem mittleren Ausschnitt dargestellt habe. Den kleinen in der Nähe des Parameterwertes a = 3,854 einge­rahmten Feigenbaum habe ich im unteren Bild noch einmal auseinander gezogen, wo auf wieder gleicher Länge der a-Achse nur noch das Parameterintervall von 3,8535 bis 3,8543 dargestellt wird. Und man erkennt, dass auch der Feigenbaum in einem Fenster des übergeordneten Feigenbaumes, der sich in einem Fenster des ursprüng­lichen Feigenbaumes befand, wiederum eine Kaskade von Periodenverdopplungen durchläuft, und der im sich anschließenden Chaosbereich auch wieder Fenster enthält, die auch wieder Feigenbäume enthalten … 

(Anmerkung aus heutiger Sicht: Die Programmierarbeiten für meine Vorträge zur Chaostheorie habe ich in den achtziger Jahren auf einem heimischen PC durchgeführt. Die hier gezeigten Bilder sind aus Screenshots einer CGA-Grafikauflösung von 640×200 Punkten hervorgegangen. Heute kann man natürlich auch im Heimbereich wesentlich bessere Darstellungen erzeugen).     

Man kann Vergrößern so oft man will, und man sieht letztendlich immer das gleiche: Unend­lich viele Fenster, die alle Feigenbäume enthalten, die ihrerseits unendlich viele Fenster enthalten, die Feigenbäume enthalten, usw., usw.!  Dieses damals als überwältigend empfundene Phänomen, das schon in einer so einfachen Gleichung steckt, nennt man "Selbstähnlichkeit".

Hier stellt sich eine Verbindung her zwischen zwei wissenschaftlichen Modewörtern unserer Zeit: "Chaos" und "Fraktale". Die Selbstähnlichkeit ist nämlich die wichtigste Eigenschaft der Fraktale. Eigentlich kommen beide Begriffe aus völlig verschiedenen Welten. "Chaos" kommt aus der Physik, und "Fraktal" kommt aus der Geometrie. Die Verbindung zwischen beiden besteht darin, dass der Attraktor eines chaotischen physikalischen Systems eine fraktale Geometrie hat, eine Geometrie allerdings, nicht wie die klassische Geometrie mit geraden Linien und Kreisen arbeitet. Da man aber überhaupt geometrische Hilfsmittel verwenden kann, kann Zufall nicht im Spiel sein! Echter Zufall kann doch nur strukturlose Punktwolken erzeugen, aber keine solchen Punktwolken mit selbstähnlichen geometrischen Strukturen! Auch hieran erkennt man, dass deter­ministisches Chaos nur "scheinbare" Zufälligkeit bedeutet. - Wir haben bisher drei Eigenschaften von deterministischem Chaos kennengelernt, die jedoch alle miteinander zusammenhängen:

     1) Deterministisches Chaos sieht nur zufällig aus, wird aber in Wahrheit berechnet, und erzeugt auch keine strukturlosen Punktwolken.

     2) Diese scheinbare Zufälligkeit zeigt sich in einer aperiodischen Bewegung, die stabil ist.

     3) Diese Stabilität zeigt sich in einem Attraktor, der eine fraktale Struktur hat.

Nun kann man noch ergänzen:

     4) Aus der fraktalen Struktur ergibt sich der berühmte Schmetterlingseffekt!

Die Bezeichnung "Schmetterlingseffekt" hat Lorenz selbst verwendet, er hat sein Ergeb­nis von 1963 so interpretiert, dass schon der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Orkan erzeugen kann. Ähnliche Ursachen haben also keine ähnlichen Wir­kun­gen! Der technische Ausdruck für diesen Schmetterlingseffekt heißt "sensible Abhängigkeit".

Kann man eine entsprechende sensible Abhängigkeit auch in unserem "Klimamodell" erkennen? Das kann man, und zwar wegen des schon erwähnten Zusammenhangs mit der fraktalen, selbstähnlichen Struktur des Attraktors. Wegen der wiederholten Vergrößerung von Ausschnitten mussten wir die Achsen immer genauer beschriften, mit immer mehr Nachkommastellen. Die obere Horizontalachse unseres dreifachen Bildes erfordert nur eine Stelle nach dem Komma, die untere aber schon vier Stellen. Was wir hier nur dreimal gezeichnet haben, setzt sich aber im Fraktal unendlich oft fort! 

Somit hängt es letztlich von unendlich genauen Zahlenangaben ab, ob wir einen Parameterwert für einen geordnetes oder ein ungeordnetes, aperiodisches "Klima" vor uns haben. Anders ausgedrückt: In unserem sogenannten, weil viel zu stark vereinfachten "Klimamodell" für fremde Planeten könnte eine Temperaturstörung von einem millionstel Grad oder weniger ein vollkommen verändertes Klima hervorrufen! Hier haben also ähnliche Ursachen tatsächlich keine ähnlichen Wirkungen! Und das hat Lorenz veranschaulicht mit dem Schmetterling, der einen Orkan auslösen kann.

Wenn so kleine Ursachen so große Wirkungen haben, ist dann die Kausalität verletzt? Das wird oft behauptet! Um diese Frage zu beantworten, muss man jedoch zwischen starker und schwacher Kausalität unterscheiden. Schwache Kausalität steht für "gleiche Ursache, gleiche Wirkung". Das wird natürlich nicht in Frage gestellt. Wir haben hier mit dem Modell gerechnet und schon deswegen die schwache Kausalität akzeptiert. Gleiche Ursachen haben nach wie vor gleiche Wirkungen, und deshalb ist ja unser Chaos auch ein determinis­tisches Chaos. Starke Kausalität steht aber für "ähnliche Ursache, ähnliche Wirkung". Diese Forderung ist natürlich nicht erfüllt, wie soeben verdeutlicht. Wir können also sagen: Die starke Kausalität ist verletzt, deswegen haben wir Chaos, die schwache Kausalität ist aber nicht verletzt, und deswegen haben wir deterministi­sches Chaos.

Haben wir nun, nach der Abschaffung der starken Kausalität, den Laplace'schen Dämon entmachtet? Haben wir nun gezeigt, dass Willensfreiheit nicht im Widerspruch steht mit den Gesetzen der Natur? Vielleicht noch immer nicht! Wir haben diesem Dämon nur mehr Arbeit gegeben, eigent lich sogar unendlich viel mehr Arbeit: Musste er vorher schon die Anfangsbedingungen für alle Freiheitsgrade des ganzen Universums kennen, so muss er sie nun auch noch unendlich genau kennen. Und dennoch, eine prinzipielle Undurch­führbarkeit der deterministischen Berechnung der Welt folgt daraus noch nicht. Wir haben es ja immerhin mit einem Dämon zu tun, und der sollte sich die Freiheitsgrade auch ganz exakt beschaffen können!

Nun aber können wir das am Anfang des Vortrags erwähnte stochas­ti­sche mikroskopi­sche Chaos ins Spiel bringen, das ja auf quantentheoretischer Ebene fundamental ist und nicht auf Unkenntnis basiert: Wenn der Dämon alle Anfangsbedingungen buch­stäb­lich unendlich genau benötigt, dann wird ihm sogar die minimale quantenmecha­nische Unschärfe zum Verhängnis! Also ist die makroskopische Welt prinzipiell nicht durchgängig determiniert! Wie groß der damit verbundene Umschwung des Denkens ist, und wie schwer dieser Umschwung zu akzeptieren ist, wird vielleicht deutlich durch ein Zitat aus einem noch 1978 erschienenen "Handbuch naturwissen­schaftlicher Grundbegriffe". Zitat: 

"Die philosophische Aufregung um die Quantenmechanik ergibt sich ... aus dem weithin popularisierten Versuch, den hypothetischen mikrophysikalischen Indeterminismus auf die größere Welt zu übertragen. Doch besteht kein Anlaß, die besonderen Methoden der Mikrophysik ... auf die übrige Welt zu extrapolieren. ... Sobald eine gewisse Zahl von Teilchen vorliegt, gleichen sich die Indeterminismen aus, so dass für größere Bereiche eine Naturgesetzlichkeit möglich wird." -  Ich hoffen, dass dieser 1978 ver­öffentlichte Text eine der letzten Bestätigungen des Uhrwerksuniversums ist.

Vor 1963 konnte die quantenmechanische Unschärferelation den Laplace'schen Dämon tatsächlich kaum beunruhigen. Die Orte und Impulse für die Anfangsbedin­gungen waren zwar schon seit 1927 nicht mehr gleichzeitig zu bekommen, aber in der Praxis tangierte das nur die mikroskopischen Objekte. Auf die makroskopische Determiniertheit wirkt sich das nicht aus. So dachte man bis 1963, und wie wir eben gehört haben, teilweise auch noch bis 1978.

Aber schon 1963 hatte Lorenz die Notwendigkeit für buchstäblich unendlich genaue Anfangs­bedingungen aufgezeigt, und diese "mikroskopische" Präzisionsforderung verbindet nun einmal die Quantenwelt mit der uns vertrauten makroskopischen Welt. Die Quintessenz lautet also: Die Chaostheorie kann grundsätzlich die quantentheoretischen Unbestimmtheitseffekte in die makroskopische Größenskala hinein verstärken. Aber nicht alle makroskopischen Systeme sind deterministisch chaotisch, wie wir gesehen haben. Alle linearen Systeme sind es nicht, und nichtlineare System sind es nur, wenn die Parameter in den Gleichungen bestimmte Werte haben. Nicht alle makros­kopischen Systeme spüren also die quantenmechanische Unschärfe. Unsere Welt ist also weder durchgehend determiniert wie ein Uhrwerk noch blind zufällig wie eine Lostrommel. Das konnten wir mit den Argumenten der Naturwissenschaft ableiten, die dann wohl nicht im Widerspruch stehen muss zur Theologie.

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